Die Schönheit besiegt die Zeit und umgekehrt

Bericht über ein kleines ikonographisches Abenteuer

Seit mehreren Monaten hege ich den Wunsch, einen Bilderzyklus zu malen, in dem etwas von den Widerspruchlichkeiten unseres Milleniumsendes sich wiederfinden sollte.
Ich habe das Projekt nicht länger verfolgt, wegen der Schwierigkeit, einen geeigneten Raum zu finden, in dem das Ganze gleichzeitig und als Einheit zu sehen wäre.
Dann kam aber das unerwartete Wiedersehen mit Doktor Waldemar Schuster, mit dem mich eine alte Freundschaft verbindet: zusammen druckten wir vor Jahren die Schulbank des altehrwürdigen Gymnasiums „Nicolae Bălcescu" zu Klausenburg.
Seine spontane, ja begeisterte Bereitschaft, mich bei diesem Projekt zu unterstützen und mir die Wände des Wartezimmers seiner Praxis zur Verfügung zu stellen, sei hier mit Dankbarkeit erwähnt.
Daβ es aber bei dem zukünftigen Verbleib dieser Gemälde ausgerechnet urn eine neurologische Praxis und zwar in Frankfurt am Main geht, gehört mit Sicherheit zu jener Art von schicksalhaften Begebenheiten, die manchmal ganz feige als Zufälle getarnt, sich in unser Leben hineinschleichen.

Aus der Trümmerlandschaft meines Palimpsestes rufe ich, von einem seltsamen Weltschmerz erfüllt:
“Die Wirklichkeit werde ich schon lernen zu ertragen, was ist aber aus der Schönheit, was ist aus der Zeit geworden?
Sie schienen ja noch vor Kurzem sich so dringend zu konkurrenzieren ...”
Der Ort, an dem ich mich befinde, mein Palimpsest, bedarf einer kurzen Erklärung.

Der Palimpsest ist jenes wertvolle Pergament, worauf in früheren Zeiten die Manuskripte geschrieben wurden.
So genannt, weil wenn der Text nach mehreren Generationen im Widerspruch mit dem veränderten Zeitgeist stand, dessen Buchstaben abgeschabt wurden, um für den neuen Inhalt Platz zu machen, und das mehrmals, eine Textschicht über die andere, jahrhundertelang.
Die alten Wörter konnten aber nicht vollständig entfernt werden und so schimmern sie mit ihrem manchmal vergessenen Sinn zwischen den neueren Zeilen hindurch, manchmal überraschend neue, sinnvolle Zusammenhänge herstellend.
So wurde der Palimpsest in einem wunderbaren Essay von Thomas De Quincey (1) beschrieben und ganz in seinem Sinne brauche ich das Wort als Metapher für das menschliche Gehirn.
“What else than a natural and mighty palimpsest is the human brain? Such a palimpsest is my brain, such a palimpsest, oh reader! is yours.”

Es herrscht Unruhe unter den Wörtern meines Palimpsestes.
Nicht etwa wegen der Nähe zu den Apparaten von Doktor Schuster, vielmehr deswegen, weil der Traum De Quinceys ein zweites Mal getraumt wurde: in der dunklen Kälte eines galizischen Schtetls kurz vor dem zweiten Weltkrieg.
“Das Mythisieren der Wirklichkeit” ― so nannte Bruno Schulz seine Vision von dem ewig werdenden Bauwerk des Mythos von der Welt.
“Doch die zum Bau verwendeten Elemente wurden schon einmal verwendet, stammen aus vergessenen und zertrümmerten <Geschichten>. ( ... )
Wir vergessen beim Hantieren mit geläufigen Worten, daβ sie Fragmente alter und ewiger Geschichten sind, daβ wir gleich den Barbaren unsere Hauser aus Trümmern von Götterstatuen bauen.”

Aber “das Wort sehnt sich nach seinen alten Verbindungen, will sich zum Sinn vervollständigen - und diese Sehnsucht zur Heimkehr, die Sehnsucht nach der wörtlichen Urheimat nennen wir Poesie.”

Und plötzlich scheint es mir, so etwas wie eine Antwort auf meine Frage zu bekommen: oder ist es bloβ ein trügerisches Echo?
Ich weiβ es nicht, aber auf einmal fallen drei Wortruinen besonders auf, in der Trümmerlandschaft meines Palimpsestes: RAUM, ZEIT und KAUSALITÄT, einst als stolzer Grund des Seins erkoren, in Königsberg und Berlin, Weimar und Frankfurt a.M. feierlich als die apriorische Erkenntnisformen getauft ― standen sie doch, wie es scheint, vor nicht Allzulangem als Inbegriff der gesamten vorstellbaren Wirklichkeit da: wie leer und abgenutzt wirken sie plötzlich, nach einem, wenn nicht wahrerem, dann mindestens schönerem Inhalt pathetisch lechzend.
Ich glaube, in dem Unendlichen Alpaufzug,

in dem Feierlichen Empfang der Kaiserin Maria-Theresia im Hafen von Klausenburg

und in der Versöhnung zwischen Lämmern und Wölfen

poetische Kurzschlüβe des Sinnes von Raum, Zeit und Kausalität zu sehen, wie in dem Text von Bruno Schulz beschrieben: metaphorische Rettungsversuche der Wörter also.
Daβ dabei Raum, Zeit und Kausalität eine seltsame messianische Färbung erhalten, ist ebensowenig zufällig, wie der Umstand, daβ das letzte Werk von Bruno Schulz, in dem brennenden Ghetto von Drohobycz verschollen, “Der Messias” hieβ.
Metaphorische Rettungsversuche der Wörter ...
Wie sonst wäre die Wirklichkeit zu retten, als indem man die Wörter, woraus sie besteht, zu retten versucht?
Wie sonst wäre ich zu retten?
Die Wirklichkeit ist ja, um bei Bruno Schulz zu bleiben, die Wirklichkeit ist Schatten des Wortes.

Noch eine Bemerkung zum Maria-Theresia-Bild:
Die Farben auf dieser Leinwand waren noch nicht ganz trocken, als ich in einem Buch (2) auf folgendes Wort gestoβen bin, in einem Satz über die Gemeinsamkeit all der Volker zwischen Baltikum und dem Schwarzen Meer. Sie alle warten nämlich auf etwas, was nie kommen wird, es sind dies „Godot népei", die Völker Godots ...
Wenn man die Grundparadoxie des Daseins durch paradoxe Aussagen zu bewältigen und die Wörter stellvertretend fur die Realität zu retten versucht, ist das Ergebnis fatalerweise zweideutig und unbefriedigend, was in der zentralen Aussage in diesem Zyklus zum Ausdruck kommt: Die Schönheit besiegt die Zeit und umgekehrt.


Gerne möchte ich deshalb aus dem unerschöpflichen Fundus der deutschen Dichtung zwei tröstende Zitate hinzufügen.
Schreibt Goethe (3):
„Warum bin ich vergänglich, o Zeus? So fragte die Schönheit. ‚Macht ich doch‘, sagte der Gott, ,nur das Vergängliche schön‘”.
Und schlieβlich eine Zeile von Rilke (4): “Wer spricht von Siegen? Überstehn ist alles”.

Zum Schluβ schlage ich einen versöhnlichen Tanz der Feen um den Fleischwolf vor.


Kein anderes Haushaltsinstrument verkörpert den jetzigen Zeitgeist besser, als eben der alles zermalmende Fleischwolf ― das ist eine Tatsache, die mir inzwischen von zahlreichen Köchinnen bestätigt wurde.


Valentin Lustig, Zürich, Oktober 1998

    1. Thomas De Quincey, “The Palimpsest of the Human Brain”
    2. Kolozsvari Papp Laszlo, “Hollo úr”
    3. Johann Wolfgang Goethe, “Vier Jahreszeiten”
    4. Rainer Maria Rilke, “Requiem für Graf von Kalckreuth”